Nikolaus Harnoncourt

Bitte, ihr sollt die junge Dame nicht zermatschkern!

Bitte?

Ein wichtiges Wörtchen – nicht nur bei der Arbeit mit Berufsorchestern, sondern gleichermaßen auch bei jener mit Kindern!

Ihr?

Die 221 Kinder des „Mur – Mürztaler Jugendsinfonieorchesters“

Junge Dame?

Die siebenjährige Geigensolistin Antonia, die im Violinkonzertes in h-moll von Oskar Rieding von 221 Kindern „voll sinfonisch“ begleitet wird.

Zermatschkern?

Ein aus der Landwirtschaft stammender, typisch österreichischer Begriff; in Bezug auf das Musikmachen bedeutet er „Übertönen, akustisch Erdrücken“.

Wer fordert Rücksicht für die Solistin?

Der weltberühmte Dirigent – er bezeichnet sich selber als Musiklehrer und Musikvermittler – Nikolaus Harnoncourt.

Was bringt einen der bedeutendsten Dirigenten unserer Zeit dazu, ein aus 221 Kindern und Jugendlichen bestehendes Orchester zu dirigieren?

Begeisterung, Konzepte und praktische Arbeit!

Begeisterung?

Alle, die mit Nikolaus Harnoncourt arbeiten dürfen, erzählen von seiner großen Fähigkeit, Begeisterung zu vermitteln. Umgekehrt lässt er sich – und derartiges ist nicht selbstverständlich – von der Begeisterung anderer Menschen für Ideen, die er wichtig findet, „anstecken“!

Konzepte?

Im Schulrechtsdokument, das die fünf öffentlichtrechtlichen Musikschulen, die dieses Orchester gemeinsam betreiben, formuliert haben, steht – mit allerhöchster Genehmigung des österreichischen Bildungsministeriums – zu lesen, dass man hier „die Musik als Sonne versteht, die auf die Menschen strahlt, und dass es die Aufgabe der Musikerzieher ist, nicht diesem Strahl im Weg zu stehen und die eigenen Schatten auf die Kinder zu werfen, sondern zu helfen, Wolken zu beseitigen“.

Praktische Arbeit?

Konzepte sind nur so gut, wie die Glaubwürdigkeit und Qualität ihrer Realisierung. Man weiß, dass sich Kinder oft dann am wohlsten fühlen, am unbefangensten sind, sich optimal entfalten, wenn sie – ungestört durch Erwachsene – unter sich sind.

Warum soll dies beim Musikmachen anders sein?

Die vor 22 Jahren daraus gezogene Konsequenz: die Gründung eines großen Sinfonieorchesters unter dem Motto „Sinfonisches Musizieren ohne Erwachsene“.

  • Kinder, die in einem Orchester spielen? Ja, dies ist üblich, das dürfen sie!
  • Kinder, die solistisch mit Begleitung eines großen Orchesters spielen? Dies schon weniger!
  • War da nicht noch etwas, noch jemand?

Ja – ein großes Orchester braucht wohl oder übel (!) einen Dirigenten!

Spätestens hier beginnt das große Gedränge der Erwachsenen, der Musikschulleiter, der Musikschullehrer: wer soll, darf, muss, kann, will, wann und wo dieses Riesenorchester dirigieren? Ja – dies ist eine wichtige Frage: das Dirigieren ist nicht nur im professionellen Musikleben eine Sache von stark machtbezogener Symbolkraft!

Der legendäre Schweizer Dirigierlehrer Richard Schumacher hat eine höchst erfolgreiche Dirigiertechnik entwickelt, die sich von unbewussten Bewegungen herleitet, die er bei musikhörenden Kindern beobachtet hat.

Was liegt näher, als das Dirigieren zu entmythologisieren, es als eine helfende und nicht als eine herrschende Tätigkeit zu definieren, und es als eine völlig selbstverständliche und unspektakläre Art der des Musikmachens zu betrachten wie das Singen, das Orchesterspielen, das Kammermusizieren? Dies mit dem einfachen Ziel, dass Kinder mit dem Instrument „Sinfonieorchester“ genauso angstfrei, unbefangen, lustvoll und dadurch erfolgreich umgehen wie mit ihrer Blockflöte, ihrer Geige, oder mit ihrer Stimme?

Das MUR – MÜRZTALER JUGENDSINFONIEORCHESTER wird seit seiner Gründung ausschließlich von Kindern und Jugendlichen dirigiert, die zwischen 8 und 18 Jahre alt sind. Noch kein Musikschullehrer, noch kein Musikschulleiter – der Dirigierlehrer der SchülerInnen miteingeschlossen – hat je ein Konzert dieses Orchesters dirigiert.

Führende Mitglieder der Wiener Philharmoniker besuchen ein Konzert dieses Orchesters, äußern erstaunt: „wenn wir in Wien in der Oper öfter einen so klarenAuftakt bekommen würden wie von diesen jungen Leuten, wären wirfroh“. Das weltberühmte Orchester übernimmt die Patronanz über ihre kindlich/jugendlichen OrchesterkollegInnen. Es hilft maßgeblich, das Innovativkonzept der Mürztaler Musikschulen politisch durchzusetzen (regelmäßiges Auftrittstraining, Konzertbesuche, Unterricht bei Gastlehrern, in den Instrumentalunterricht integrierter Theorieunterricht für alle Musikschüler, intensive Ensemblearbeit, regelmäßige Evaluierungen, Begabtenförderung, Übebetreuung, Hauptfachklassenassistenten), unterstützt das Jugendsinfonieorchester in vielfältiger Weise und bittet Nikolaus Harnoncourt, mit dem Orchester zu arbeiten.

Nikolaus Harnoncourt erblickt bei der 1. Probe das 227-köpfige Mur- Mürztaler Jugendsinfonieorchester
Nikolaus Harnoncourt erblickt bei der 1. Probe das 227-köpfige Mur- Mürztaler Jugendsinfonieorchester
Nikolaus Harnoncourt dirigiert dieses Orchester im Austtria Center Vienna
Nikolaus Harnoncourt dirigiert dieses Orchester im Austtria Center Vienna

Nikolaus Harnoncourt, ein Musikerzieher?

„Musik – Schule“ ist Musik und Schule. Droht nicht zu oft die Schule die Musik zu überwuchern, zu ersticken? Sind wir nicht zu sehr beschäftigt mit uns selber, mit dem Imagewettlauf mit den Lehrerkollegen an Gymnasien, mit dem selbstauferlegten Legitimationszwang, Musikschulen müßten „schulischer“ sein als Pflichtschulen? Versuchen wir nicht zu oft, die Musik für irgendwelche „Zwecke“ in die Pflicht zu nehmen, zu „nutzen“? Laufen wir nicht Gefahr zu übersehen, dass Musik dann am besten „erzieht“, dann am wirkungsvollsten „therapiert“, wenn wir die Musik ganz einfach Musik sein lassen?

Für Nikolaus Harnoncourt zählen ausschließlich die Musik und die Menschen, wenn er – der Weltstar – die Kinder auffordert, die Deutlichkeit seiner Schlagtechnik zu kritisieren: „Kennt ihr Euch aus? Nicht auskennen und dasnicht laut sagen, gibt es nicht“, oder wenn er der fünfzehnjährigen Claudia, die eben ein Begrüßungsstück für den Maestro dirigiert hat, mit den Worten gratuliert: „Du machst das sehr gut, ich kann es auch nicht besser!“.

Schüler aufzufordern, den „Lehrer“ zu kritisieren? Sich leistungsmäßig mit Kindern auf eine Stufe stellen? Ist dies nicht schwerste (musik-)pädagogische System(zer)störung?

Nikolaus Harnoncourt probt mit den 221 Kindern wie mit einem Berufsorchester. Er verlangt das Unmögliche, das nach und nach – und wenn auch nur für „Sternsekunden“ – möglich wird. Es fallen Vergleiche mit Nilpferden, es werden Balkanpfeffer und sprühende Funken sowie Riesenhämmer gefordert und – „piano ist Italienisch und heißt pscht!!!!“ – es wird genauso freundlich wie unnachgiebig und daher erfolgreich um Rücksichtnahme für die siebenjährige Geigensolistin gebeten, die ja nicht „zermatschkert“ werden darf!

Das Rezept von Nikolaus Harnoncourt? Es ist schlicht: er nimmt Kinder sowohl als Menschen als auch als Musiker ernst.

Ernst Smole
Veröffentlicht in

Mathis Huber & Otto Hochreiter (Hrsg.)
BEING NIKOLAUS HARNONCOURT
200 Seiten
Styria Verlag Graz, 2009

ÜBEN & MUSIZIEREN
Nr. 4/2005
Schutt Verlag Mainz, New York

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